Die historische Orgel in der Pfarrkirche Reiste
Teile der historischen Orgel in der St. Pankratius Kirche in Reiste können auf eine fast 400-jährige, unverwechselbare und faszinierende Geschichte zurückblicken. Bemerkenswert und ein Glücksfall ist der historische Bestand des Instrumentes, welcher im Zuge von mehreren Umbauten und Maßnahmen erhalten geblieben, die Zeit überdauerte und nach der vollendeten Restaurierung heute wieder in Reiste zu bewundern ist.
Das Instrument hat seinen Ursprung in der 1633 für die Kirche des Benediktinerklosters in Grafschaft gebauten Orgel. Über den Erbauer der damaligen Orgel sowie über deren Gehäuse und Gestaltung des Prospektes gibt es keine sicheren Erkenntnisse. Die einmanualige Grafschafter Orgel mit angehängtem Pedal besaß 10 Register, die in einem Renaissancegehäuse untergebracht waren.
Im Zuge des Neubaus der Grafschafter Klosterkirche wurde die Orgel um 1740 nach Reiste versetzt. Hier stand sie zunächst in der alten romanischen Kirche aus dem 12. Jahrhundert. Nachdem die alte Kirche 1835 wegen Baufälligkeit geschlossen werden musste, wurde die zu dieser Zeit schon 200 Jahre alte Reister Orgel in eine Scheune die damals als Notkirche diente, versetzt.
Im Jahre 1849 wurde der Grundstein für die neue, im neugotischen Stil errichtete Reister Kirche gelegt. Der Reister Lehrer, Küster und Organist Johann Friedrich Nolte (1809-1874) beschäftigte sich schon früh mit dem Bau einer Orgel für die neue Kirche und sah in seinen Planungen die Beibehaltung des gesamten alten Pfeifenmaterials vor. Mit dem Orgelbau wurde der Orgelbauer Anton Fischer aus Beckum beauftragt. Anton Fischer war zu dieser Zeit in Westfalen als gewissenhafter und tüchtiger Handwerker bekannt. Die Orgel in Reiste ist das einzige erhaltene Instrument des Orgelbauers.
Fischer begann im Jahr 1852 mit dem Bau der Orgel. In dem zweimanualigen Werk fanden nach den Plänen Noltes acht Register aus der alten Grafschafter Orgel von 1633 sowie drei weitere Register unbekannter Herkunft ihren Platz. 13 Register baute Fischer neu. Die Windladen der Orgel wurden von Fischer sämtlich neu hergestellt. Noltes hervorragenden Kenntnissen im Orgelneu- und Umbau ist es zu verdanken, dass die Reister Kirchengemeinde schon damals ein sehr wertvolles Instrument besaß, welches stilistisch auf der Schwelle zwischen Barock und Romantik stand. Die Orgel besaß 1854 zunächst nur ein notdürftiges Gehäuse. Am 1858 fertigte der Bildhauer Veltmann aus Münster einen neugotischen Prospekt für die Orgel, welcher vor das vorhandene Gehäuse gesetzt wurde. Es handelte sich bei dem markanten Prospekt lange Zeit um ein wesentliches Ausstattungsmerkmal der Reister Kirche.
Die Orgel überdauerte gut 100 Jahre weitgehend unverändert. Einzig das Gehäuse aus Weichholz litt unter starkem Wurmbefall und wurde bis 1950 schon teilweise demontiert. Rudolf Reuter, Orgelsachverständiger des Westfälischen Amtes für Denkmalschutz, spricht dennoch 1951 von einer "fast unverändert erhaltenen Orgel im Zustand von 1860“.
1972/73 erfolgte unter der Beratung des Landeskonservators ein grundlegender Umbau der Orgel durch die Dorstener Orgelbauwerkstatt Franz Breil. Dabei wurde der neugotische Prospekt aufgegeben und durch ein neues Gehäuse ersetzt, das sich im weitesten Sinne am barocken Werkprinzip orientiert. Intention war damals, ein Gehäuse zu erstellen, dass der Pfeifenstellung der Orgel von 1633 nahekommt.
Der Orgelumbau der 1970er Jahre ist seinerzeit zwar als "Restaurierung" bezeichnet worden, fachlich muss aus heutiger Perspektive jedoch eher von einem Orgelneubau unter Verwendung historischer Bauteile gesprochen werden. Jedoch stellte gerade die Übernahme der alten Orgelpfeifen und Windladen in die Orgel ein Glücksfall dar.
Nach der letzten sehr umfangreichen Renovierung des Kirchenraums in den 1990er Jahren wurde eine dringend notwendige Reinigung der Orgel aufgeschoben. Die Orgel befand sich Mitte der 2000er Jahre zwar in einem spielbaren Zustand, war jedoch sehr stark verschmutzt. Einige Prospekt- und Innenpfeifen waren von Bleifraß befallen. Im Jahr 2007 erfolgte eine Begutachtung der Orgel durch den Orgelbeauftragten des Erzbistums Paderborn, Herrn Jörg Kraemer. In seinem Gutachten kommt er zu dem Schluss, der erhaltene historische Bestand der Orgel in Reiste sei insgesamt geeignet, das Instrument mit seiner eigenen und individuellen Geschichte in die vorderste Reihe der denkmalwerten Orgeln des Sauerlandes und ganz Westfalens zu stellen. Der Zustand der Orgel erforderte jedoch dringenden Handlungsbedarf. Auf Initiative des damaligen Reister Pfarrers Ludger Eilebrecht gründete sich der Orglebauverein PRO - Projekt Reister Orgel, der sich gemeinsam mit dem Kirchenvorstand und der Kirchengemeinde zum Ziel gesetzt hat, über eine Reinigung hinausgehende denkmalpflegerische Restaurierung durchzuführen.
Nach einer intensiven Planungs- und Vorbereitungszeit konnte im Jahr 2015 die renommierte Orgelbaufirma Eule aus Bautzen mit dem ehrgeizigen Restaurierungsprojekt beauftragt werden. Ziel der Restaurierung war es, die Reister Orgel wieder in ihren historischen Kontext von 1854 zu versetzen. Dazu war es erforderlich, die Umbaumaßnahmen aus dem Jahr 1973 rückgängig zu machen. Kernpunkt war der Neubau des Orgelgehäuses und des neugotischen Prospekts. Um sämtliche originale Bauteile technisch und klanglich wieder in den ursprünglichen Zusammenhang von 1854 bringen zu können, wurde der Spieltisch der Orgel wieder seitlich angeordnet.
Die vorhandenen Windladen des Orgelbauers Fischer wurden nach denkmalpflegerischen Grund-sätzen restauriert und instandgesetzt. Das umfangreiche vorhandene historische Pfeifenwerk bedurfte einer Restaurierung nach höchsten Standards und einer gründlichen Reinigung, um den ursprünglichen Klang wieder erzielen zu können. Sechs Register wurden neu gebaut.
Die Restaurierung dauerte insgesamt drei Jahre. Vollendet wurden die Arbeiten mit der Wiedereinweihung des Instrumentes am 30. September 2018 durch Dechant Georg Schröder. Mit der Restaurierung der Orgel und der weitestgehenden Wiederherstellung ihres Zustands von 1854 sowie der Hinzufügung der von Johann Friedrich Nolte ursprünglich geplanten, aber nie eingebauten Register klingt das Instrument heute so, wie es sein geistiger Vater vor über 150 Jahren erdacht hat. Es findet damit seine Vollendung.
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