Daniel Kunert - Musik-Medienhaus
Das Portal der Königin

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Die Orgeln in St. Maria Magdalena Goch

250 Jahre Orgelgeschichte
Disposition der König-Orgel
Disposition der Seifert-Orgel

Mon Orgue, c’est un orchestre!

250 Jahre Orgelgeschichte (aus der Festschrift zur Orgelweihe der neuen Seifert-Orgel)

Die Geschichte der Pfarrkirche reicht weit zurück bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts. Für diese Zeit ist durch Ausgrabungen im Jahre 1950 eine romanische Tuffsteinbasilika nachgewiesen. Die Apsis dieser Kirche ist im Fußboden des Marienschiffes bei der großen Renovierung der Kirche nachgebildet worden. Die Chorweihe der gotischen Anlage ist 1323 datiert. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstand der Chor des Marienschiffs. Das Langhaus wurde im Laufe des 15. Jahrhunderts bis hinein in das 16. Jahrhundert errichtet.

Neben der Baugeschichte ist auch die Orgelgeschichte der Pfarrkirche bunt und vielfältig, dachte im 14. Jahrhundert noch niemand an eine Orgel, der Gebrauch von Orgeln im liturgischen Dienst steckte damals noch in den Kinderschuhen, so ist jedoch schon für das Jahr 1784/85 der Neubau einer Orgel durch den Kölner Orgelbauer Ludwig König belegt.

Ludwig König, eigentlich Christian Ludwig König, erlernte das Orgelbauerhandwerk bei seinem Vater Balthasar König und bei dem berühmten Orgelbauer Christian Müller in Amsterdam. Seine Amsterdamer Zeit dürfte so zwischen 1737 und 1743 gelegen haben, so dass die Vermutung nahe liegt, dass er als Geselle am Bau der großen Orgel in der Bavo Kerk beteiligt war. Die Selbstständigkeit von Ludwig König ist für das Jahr 1753 belegt. Bedeutende Orgeln dieses Meisters stehen heute noch, wenn auch zum Teil verändert, im näheren Umkreis von Goch:

Düsseldorf, Maxkirche, 1753 – 1755, III/39 Register
Nijmegen, Stevenskerk, 1773 – 1776, III/54 Register
Xanten, ev. Kirche, 1785 I/ 9 Register

Leider ist in den Archiven keine Abbildung der Orgel überliefert, doch gibt der Orgelbauvertrag vom 4. August 1784 die Disposition des Werkes wieder. Die Orgel verfügte über 22 Register, verteilt auf 2 Manuale und ein angehängtes Pedal.

Nachstehend die Disposition :

I. Manual C, CIS – d³ II. Manual (Positiv) C, CIS – d³ Pedal (angehängt) C, CIS – g°
Bourdon B/D 16‘ Flauttraver D 8‘  
Principal 8‘ Prestant 4‘  
Violadigamba 8‘ Flaut 4‘  
Bourdon 8‘ Quint 3‘  
Quintbass/Sextquialtera 6‘ Octav 2‘  
Octav 4‘ Quintflaut 1 ½‘  
Quint 3‘ Carillion D  
Superoctav 2‘ Mixtur 3fach  
Mixtur 3fach Basson B 8‘  
Trompet 8‘ Vox Humana  
Claron B Tremulant 8‘  

Das Werk wurde am 4. November 1785 von Johann Gottlieb Nicolai aus dem holländischen Zwolle und J.A. Fürst aus Marienweete untersucht. Johann Gottlieb Nicolai war zu dieser Zeit Organist an der berühmten Frans Caspar Schnitger Orgel in der Michaelskerk in Zwolle. Die Orgel in Goch gehörte zu Königs Spätwerk. 68 jährig erbaute er die Orgel und verstarb mit 72 Jahren 1789 in Köln. Sowohl die Wahl des Orgelbauers als auch der Orgelsachverständigen legen ein beredtes Zeugnis vom Engagement der Gemeinde ab.

Mit Datum vom 10.August 1848, also 63 Jahre nach der Fertigstellung des Instrumentes legt der Kevelaerer Orgelbauer Wilhelm Rütter ein Angebot zum Umbau der Orgel vor. Die Disposition soll dem Zeitgeschmack entsprechend angepasst und der Umfang der Manuale auf f³ erweitert werden. Das bis dato angehangene Pedal soll durch ein freies Pedal ersetzt werden. Unklar ist ob dieser Umbau ausgeführt wurde. Die Akten jedenfalls geben hierüber keinerlei Auskunft.

Weitere 53 Jahre später, oder 116 Jahre nach Errichtung der König Orgel erhält ein weiterer rheinischer Orgelbauer Einzug in die Hallen der Magdalenakirche in Goch. Es ist dies Johannes Klais aus Bonn. Klais ersetzt die König Orgel durch einen opulenten Neubau mit 41 Registern auf drei Manualen und Pedal. Was mit der König Orgel geschah ist nicht dokumentiert. Jegliche Äußerung hierzu wäre spekulativ.

Die Quellen zur Klais Orgel sind mager, die betreffenden Akten des Erbauers sind den Kriegswirren zum Opfer gefallen, jedoch gibt ein Briefwechsel zwischen dem damaligen Organisten Peter Heinrich Thielen und seinem befreundeten Pfarrer in Erkelenz Aufschluss über die Eckdaten der Orgel.

Nach Thielen muss das Werk, dessen Disposition leider verschollen ist, vor Ostern 1901 eingeweiht worden sein. Thielen schreibt seinem Freund in Erkelenz:
„Seit Ostern 1901 ist unser Werk in - sagen wir – sehr strammem Gebrauch und die komplizierte Maschine funktioniert nach wie vor wie ein solides Uhrwerk. Ich bin glücklich, ein solches Kunstwerk mit seinen vielen entzückend schönen und charakteristischen Stimmen zu regieren.
In der Schicksalsnacht der Gocher Stadtgeschichte, dem 7. Februar 1945 wird die Orgel während des verheerenden Fliegerangriffes ein Raub der Flammen und geht unter, eine weitere, lange orgellose Zeit bricht an. Am 6. Mai 1947 beginnt der Wiederaufbau der Kirche. Der erste Gottesdienst im Hauptschiff findet am 1. Oktober 1949 statt, das Marienschiff wird im November 1950 fertig.

In den entbehrungsreichen Zeiten nach dem Krieg schaffen es die Gocher dennoch den Schlussstein zum Wiederaufbau der Kirche zu setzen.

Am 3.Advent 1958, dem Sonntag Gaudete, wird die neue Orgel eingeweiht. Sie wird erbaut von der Kevelaerer Orgelbauwerkstatt Romanus Seifert und Sohn und verfügt über 36 Register verteilt auf drei Manuale und Pedal. Die Disposition ist deutlich von den Klangidealen dieser Zeit geprägt und ist sicher noch vielen Gemeindemitgliedern deutlich im Ohr. Das neue Instrument ist zweiseitig flankierend zum Westfenster aufgebaut und verfügt über ein Rückpositiv in der Brüstung. Die Formensprache ist sachlich und klar. Die Orgel ist nach dem Kegelladenprinzip aufgebaut, dem zu dieser Zeit gängigen Orgeltypus. Diese Orgel versieht 35 Jahre ihren Dienst in Liturgie und Konzert und steht somit einer ganzen Generation in den Aufgaben der Musica Sacra zur Verfügung.

In der Nacht zum 24. Mai 1993 überschattet ein Ereignis die Geschichte von Stadt und Gemeinde. Der altehrwürdige Kirchturm, dessen vier Untergeschosse noch aus dem 14 Jahrhundert stammen und der über 600 Jahre und zwei Weltkriege überstanden hat, sinkt über Nacht um 2.27 Uhr in sich zusammen und begräbt die Seifert Orgel von 1958 unter sich. Turm, Teile des Hauptschiffes und der angrenzenden Schiffe werden stark beschädigt. Die ganze Stadt steht unter Schock. Über die Ursachen wird viel diskutiert. Experten nehmen die Kirche in Augenschein und schnell wird der Plan zum Wiederaufbau in die Tat umgesetzt. Unter großer Beteiligung der Bevölkerung, des Bistums und der Gemeinde wird der Turm neu aufgebaut und die Narben des Einsturzes geschlossen. Die Anschaffung einer neuen Orgel wird überlegt, jedoch vor dem Hintergrund der gigantischen Bauaufgabe zunächst verschoben.

2003, 10 Jahre nach dem dramatischen Ereignis, ist die Silhouette der Stadt wieder geschlossen und der neue Turm, in seinen Proportionen gotisch, in der Formensprache zeitgenössisch, fertig gestellt.Als Interimslösung wird eine elektronische Orgel angeschafft, die auf der neuen Orgelbühne Aufstellung findet. Dieses Provisorium soll 12 Jahre Bestand haben.
2009 holt der Kirchenvorstand Angebote zum Neubau einer Orgel bei namhaften Werkstätten ein. Den Wettbewerb gewinnt die Orgelbauwerkstatt Romanus Seifert und Sohn aus Kevelaer.

Das neue Instrument ist klanglich in symphonischer Art angelegt. Der Prospekt, die Schauseite der Orgel, zitiert in seinem bewegten Felderverlauf und seinem geschachtelten Grundriss, sowie in der schlank aufstrebenden Gestalt der seitlichen Türme sowohl den Einsturz des Turmes als auch die damit erbrachte Wiederaufbauleistung.

Über die klanglichen Details dieses Instrumentes wird an anderer Stelle in dieser Schrift ausführlich berichtet, sodass hier darauf verzichtet werden kann. Die Geschichte dieses Instrumentes wird noch geschrieben werden und es ist die Aufgabe folgender Generationen darüber zu berichten.

Wir alle wünschen uns viele Generationen mit der neuen Orgel. Liturgie und Musik gehören zusammen. Die Musik ist das Bindeglied zwischen dem gesprochenen Wort und der Transzendenz. Sie bietet dem Kirchenbesucher die Gelegenheit in das Gotteslob mit einzustimmen und Anteil zu nehmen, denn so hat es auch schon Augustinus formuliert:
Wer singt, betet zweimal

Goch, im Oktober 2015, Franz Peters

Quellen
Bistumsarchiv Münster, darin Teile des Pfarrarchivs Goch, Sankt Maria Magdalena
Hodick , Horst, Johannes Klais, ein rheinischer Orgelbauer und sein Schaffen, München 2001
Archiv der Orgelbauwerkstatt Seifert in Kevelaer


Die neue Orgel

erbaut 2015 von Romanus Seifert und Sohn aus Kevelaer

I. Grand-Orgue C-g’’’ II. Récit-Expressif C-g’’’ III. Solo C-g’’’ Pédale C-f’
1. Montre 16’ 11. Bourdon 16’ 27. Flûte harmonique 8’ 33. Soubasse 32’
2. Montre 8’ 12. Diapason 8’ 28. Violoncelle 8’ Principalbasse 16’
3. Salicional 8’ 13. Cor de nuit 8’ 29. Flûte conique 4’ 34. Violonbasse 16’
4. Flûte à cheminée 8’ 14. Viole de Gambe 8’ 30. Basson 16’ 35. Soubasse 16’
5. Octave 4’ 15. Voix céleste 8’ 31. Trompette 8’ 36. Basse ouvert 8’
6. Quinte 2 2/3’ 16. Prestant 4’ 32. Clairon 4’ 37. Bourdon 8’
7. Doublette 2’ 17. Flûte octaviante 4’   38. Octave 4’
8. Cornet IV 4’ 18. Viole d’Amour 4’   39. Bombarde 16’
9. Plein Jeu IV-VI 1 1/3’ 19. Nasard harmonique 2 2/3’    
10. Clarinette 8’ 20. Octavin 2’    
  21. Tierce harmonique 1 3/5’    
  22. Mixture IV 2’    
  23. Cor d’Harmonie 16’    


24. Trompette harmonique 8’



 
  25. Basson-Hautbois 8’    
  26. Voix humaine 8’    
  Tremolo    

Dreimanualige Schleifladenorgel mit 39 Vollregistern und mechanischer Spiel-, bzw. elektrischer Registertraktur, in der alle Teilwerke im Hauptgehäuse Platz finden.

Koppeln:
II/I, III/I, Sub II/I, Super II/I
III/II, Sub II/II, Super II/II
I/P, II/P, III/P, Super II/P, Super III/P

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Mon Orgue, c’est un orchestre!

Dieses César Franck (1822 – 1890) und damit dem Vater des „symphonischen“ Komponierens für Orgel in den Mund gelegte und in zahlreichen Fassungen überlieferte Bonmot wird und wurde in ganz unterschiedliche Richtungen gedeutet. Im Grunde markiert es (s)eine Position in jenem Streit, der in der Welt des französischen Orgelbaus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit zum Teil recht großer Heftigkeit ausgetragen wurde: Darf die Orgel Stimmen und Effekte des Orchesters nachahmen? Oder anders gefragt: Wieviel orchestrale Elemente dürfen in die Orgel einwandern, ohne dass sie das ihr genuine, also das orgeltypische aufgibt?

Die eine Front bildeten die Traditionalisten, als Kämpfer für die Bewahrung eines klassisch-französischen Orgeltyps wie er beispielsweise durch François-Henri Clicquot (1732 – 1790) zu einer letzten Blüte vor der Revolution von 1789 geführt wurde. Das andere Lager propagierte jene Neuerungen, die den in nachrevolutionärer Lethargie verfallenen Orgelbau regelrecht wachrüttelten und untrennbar mit einem der wirkungsmächtigsten Orgelbauer überhaupt verbunden sind: Aristide Cavaillé-Coll (1811 – 1899). Seine Innovationen im Bereich der Windversorgung, die Anlage seiner Schwellwerke, die mit der Einführung des Barkerhebels erweiterten Zugriffsmöglichkeiten auf den Klangfundus der Orgel und letzten Endes auch seine Art der Klanggestaltung (Mensuren, Qualität der Intonation, überblasende Flöten) stießen ein im französischen Orgelbau völlig neues Fenster auf.
Nicht unterschätzt werden darf, dass Cavaillé-Coll, aus einer Orgelbauerfamilie stammend, die französische Orgelbautradition fest verinnerlicht hatte und sich in eben jener stehend sah. Nehmen wir sein erstes und begeistert aufgenommenes Großorgelprojekt für die Basilika von Saint-Denis (1833 – 41) in den Blick, so wird deutlich, dass er im Grunde als wesentlichen Kern eine weitgehend klassische französische Orgel baut (einschließlich des auch damals schon völlig antiquierten und später abgeänderten Umfangs des Pedals) und dort hinein seine neuartigen überblasenden Flöten und das auch für französische Verhältnisse opulente Zungenensemble komponiert. Dass ein schaffensfreudiger und vom eigenen Erfolg euphorisierter junger Geist dann nur wenige Jahre später 1846 mit der Orgel für die Eglise de la Madelaine das andere Ende der Skala auslotet und sich so weit als möglich allen „historischen Balasts“ entledigt, erscheint im Nachgang nur folgerichtig, führte aber eben verschärft zur schon benannten Kritik an seiner Arbeit.

Das orchestrale Element der Orgel abzulehnen, heißt allerdings den Blick zu verengen und das in der Entwicklungsgeschichte des Instrumentes wichtige Moment der Imitation zu negieren, denn im Grunde gab es immer eine Klangebene, die der Imitation anderer Instrumente gewidmet war. Und so ist es nur folgerichtig, dass sich die in der Musik der Renaissance bestimmenden Blasinstrumente wie Dulzian, Krummhorn oder Rankett als Register in der Orgel wiederfanden. Ebenso erging es späteren Blasinstrumenten, wie der Oboe, oder der Klarinette – jeweils mit ein wenig Verzögerung zu ihrem vermehrten Auftreten als Solo- und Ensembleinstrumente.
Aber auch die Art der Behandlung des Ensembles spiegelt sich in den jeweils zeitgenössischen Orgeln wieder. War der Ensembleklang bis zum Barock vor allem durch eine terrassenartige Dynamik und das einheitliche, oder aber kontrastierende musizieren von Instrumentengruppen geprägt – man denke sowohl an die Praxis des Musizierens in den Consorts (Gamben, Blockflöten) der Renaissance, als auch die Gegenüberstellung von Streicher- und Bläsergruppen im Barock, hatte sich spätestens ab der Romantik eine gänzlich andere Orchesterbehandlung etabliert: lückenlose dynamische Übergänge in Verbindung mit extremen Kontrasten prägten nun ebenso das musikalische Geschehen, wie vielfältige klangfarbliche Überblendungseffekte, die gewissermaßen potenziert wurden durch das starke personelle, wie auch instrumentale Anwachsen des Orchesterapparates. Und auch diesen Trend bildet die Orgel mit geringer zeitlicher Verzögerung (was einer Imitation gewissermaßen immanent ist) ab: Differenzierte Streicherstimmen und Flöten gewinnen an Bedeutung, ebenso die eine lückenlose Dynamik befördernden Spielhilfen (Schweller, Registercrescendo, diverse Kopplungsmöglichkeiten) in Zusammenhang mit einem starken Anwachsen der Registerzahl und verdrängen die klangfarblich klar gegliederte „Werkorgel“ und terrassendynamisch angelegte Orgel des Barock.

Nimmt man die Entwicklung des Orgelbaus eingebettet in die Musikgeschichte war, dann erscheinen all diese Entwicklungen, eben auch jene Cavaillé-Colls als logische Konsequenz. Der Klangfundus der Orgel wurde immer wieder entsprechend den neuesten musikalischen Entwicklungen angepasst und damit die Darstellung der jeweils zeitgenössischen Musik ermöglicht (oder eher verbessert), beziehungsweise deren Entstehung angeregt.
Doch wie stellt sich die Situation für uns heute dar, in einer Zeit in der die Komposition von Orgelmusik im Bereich der „E(rnsten)-Musik“ eher ein Nischendasein führt? Oder wenn wir schauen, was an Orgelliteratur in Gottesdienst und Konzert gespielt wird, dann erkennen wir sofort, dass der Blick weit zurück geht, oftmals erst in der Spätromantik beginnt und von dort in zugegeben großer Vielfalt nach hinten reicht – eine Tatsache die den gesamten Konzertbetrieb betrifft, denn auch die Spielpläne vieler Philharmonien sehen nicht anders aus.

Egal wie man diesen Zustand bewertet, auch dieser in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnende Abschnitt Musikgeschichte spiegelt sich im Orgelbau wieder. Um es extrem verkürzt darzustellen: Die besonders nach dem ersten Weltkrieg immer stärkere Ablehnung der spätromantischen Expressivität führt zum einen zur Wiederbelebung „kleinerer“ (polyphoner) meist mit „alter Musik“ assoziierter Formen und vor allem zu einem Wiederentdecken der Musik die später unter jenem nicht so ganz glücklichen Terminus „Alte Musik“ zusammengefasst wurde, also all dessen was bis 1750, dem ungefähren Ende des Barock komponiert wurde. Umgesetzt auf den Orgelbau heißt das, dass insbesondere mit dem Einsetzen der Orgelbewegung in den 1920er Jahren ebenso eine Kehrtwendung des Blicks stattfand und der Fokus auf einen vermeintlichen Barock gelegt wurde.

In die gleiche Beziehung können wir die sich ab den 1950er Jahren bahnbrechende Bewegung der „historisch informierten Aufführungspraxis“ setzen, mit einem zunehmenden Interesse im Orgelbau an der Restaurierung und Rekonstruktion historischer Instrumente einerseits und dem Neubau von Stilkopien andererseits. Das dieses in sich wiederrum ein Prozess ist, der vom Stand der gewonnenen Erkenntnisse über Musizierpraxis und Instrumentenbau in früherer Zeit abhängig ist, liegt auf der Hand. Fakt ist aber, dass diese Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist und auch auf den aktuellen Orgelbau bestimmend wirkt.

Wie ordnet sich nun die Klanglichkeit der neue Gocher Orgel in diese Entwicklung ein?
Im Grunde ergeben sich nur zwei grundlegende Alternativen: Ein sich auf das Terrain des spekulativen und experimentellen wagender Neubau, der bewusst tradierte Selbstverständlichkeit in Frage stellt, oder aber ein Neubau, der zumindest einen Anknüpfungspunkt in der Orgelbaugeschichte sucht, sofern er nicht konsequente Stilkopie sein möchte. Ohne in diesem Rahmen das Für und Wider diskutieren zu können: Es wurde eine historische Anknüpfung gewählt und zwar an die Bauprinzipien des eingangs thematisierten Aristide Cavaillé-Coll. Ziel war es dabei nicht, eine (ohnehin nahezu unmögliche) 1:1-Kopie eines bestimmten Vorbildinstrumentes zu erstellen, sondern vielmehr sich von einigen seinem Stil typischen Arbeitsweisen inspirieren zu lassen. So spiegeln sich im Pfeifenwerk seine Methoden der Mensuration wieder, wie im technischen Bereich seine nach Bass und Diskant geteilten Winddrücke, die ein jedem Spieler eines Blasinstruments selbstverständliches Prinzip in der Orgel abbilden: Tiefe Töne benötigen ein hohes Windvolumen (bei niedrigem Druck) und hohe Töne verlangen nach einem hohen Winddruck. Diese beiden Parameter in ihrem Zusammenwirken orientieren das Klangbild recht klar in die angesprochene Richtung und erwiesen sich im Fortgang der Intonationsarbeiten auch als äußerst positiv in Bezug auf die Füllung des doch ziemlich großen gotischen Raumes.

Aber wie spiegelt sich nun die heutige Situation des Musizierens im Instrument wieder?
Der größte Unterschied in diesem Zusammenhang für einen Orgelneubau zwischen der Situation eines Cavaillé-Coll und uns im „Hier und Jetzt“ lebenden Orgelbauern dürfte in der Art der Musik liegen, die auf den Instrumenten gespielt wird. Stellen wir die Situation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jener am Beginn des 21. Jahrhunderts gegenüber, so erkennen wir, dass wir heute vorrangig Musik längst vergangener Tage, aus dem 17. bis frühen 20. Jahrhundert spielen und nicht selten auch in dieser Stilistik improvisieren. Demgegenüber wurde auf Cavaillé-Colls Instrumenten vorrangig die zu seiner Zeit aktuelle Musik dargeboten und auch in „zeitgemäßer Sprache“ improvisiert. Die Aufführung „alter Musik“ spielte zum einen nur eine untergeordnete Rolle und fand sehr selektiv statt, zum anderen war die Herangehensweise an diese Musik eine vollkommen andere als heute. Man scheute sich nicht, sie für die modernen Instrumente quasi zu adaptieren und damit eher das aufzuführen, was wir in nicht wenigen Fällen heute schon eine „Bearbeitung“ nennen würden. Dem steht unser heutiges Herangehen gegenüber, dass die innerhalb der letzten sechzig Jahre „historisch informierter Aufführungspraxis“ gewonnenen Erkenntnisse einbezieht und das nicht nur für den Bereich der „Alten Musik“ (also bis etwas 1750), sondern ebenso für die Musik der Klassik, der Romantik und inzwischen auch zunehmend für die postromantischen Stile des frühen 20. Jahrhunderts. Das sich aus dieser „Originalklangbewegung“ ergebende Dilemma ist nun, dass ich im Idealfall für jedes Stück Musik eine „ideale“ Orgel bräuchte. Eine Situation die an der Realität vorbeigeht und gerade auch für die Orgel im speziellen, aufgrund ihres jeweils individuellen Charakters (im Gegensatz zu den recht stark normierten Instrumenten wie Klavier oder Violine) nie real war.

Sich diesem Problemfeld für den Bereich Klanggestaltung einer neuen Orgel anzunähern, gelingt am leichtesten, wenn man sich die Arbeitstechniken der Musiker zu eigen macht, die auch nur in Ausnahmefällen für die zu spielende Musik gerade das „ideale“ Instrument zur Hand haben. Dabei versuchen sie durch ihr Studium historischer Instrumente, entsprechender (historischer) Fingersätze, der adäquaten Artikulationsweise, kurzum nach dem jeweiligen Wissenstand eine Aufführungssituation zu schaffen, die dem historischen Original möglichst nahe kommt. Aber das ist eben nur ein (leider seltener) Idealfall und in der Realität werde ich als Musiker gezwungen sein, bestimmte mir gerade nicht zugängliche Parameter zu kompensieren. In jedem Falle werde ich aber durch die Auseinandersetzung mit Musik an passenden historischen Instrumenten in entsprechender Spielweise zu einer Musizierweise gelangen, die den „Idealfall“ auch in „nichtidealen“ Situationen quasi im Hinterkopf (vielleicht sogar unbewusst) mitführt.
Übertragen auf die Situation der Klanggestaltung einer Orgel führt das unweigerlich zu der Frage: Wie weit und in welche Richtung kann ich mich von meinem (selbstgewählten) historischen Ankerplatz entfernen, um zum einen mich stilistisch weiter zu öffnen, aber gleichzeitig das Vorbild nicht zu verwässern? Und damit gelangen wir auch an einen Punkt, an dem jede Objektivität verloren geht, da das Ergebnis von jedem anders empfunden wird, je nach Geschmack, Vorkenntnissen, Hörgewohnheiten und nicht zu vergessen Hörerwartungen und deren Erfüllung, oder aber Nichteinlösung im positiven, wie auch negativen.
Wenn wir diese abstrakte Situation wieder auf leichter zu fassende Fragen in unserem konkreten Fall herunterbrechen, könnte das zum Ausloten folgender Untiefen der Intonation führen, die in Abhängigkeit von Situation und Raum immer wieder eine neue Antwort verlangen: Wie weit entferne ich mich von der ansprachearmen Intonation Cavaillé-Colls und lasse stattdessen klangbelebende Geräuschhaftigkeit an Pfeifen zu? Wie weit wirke ich bei einzelnen Registern (und wenn ja, bei welchen?) der starken Progression in Richtung Diskant entgegen, um auch polyphone Strukturen in den Mittelstimmen hörbar zu machen? In welcher Art und wie stark lasse ich den solistischen Eigencharakter der Register wirken, oder spielt die Einordnung ins Ensemble eine größere Rolle?
Das soll an dieser Stelle nur einige Schlaglichter werfen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, verdeutlicht aber ein wenig, dass diese Fragen für das Endergebnis eine höhere Relevanz haben, als die Auseinandersetzung warum f‘ der Quinte 2 2/3‘ nun eine Nuance lauter als das nebenstehende e‘ klingt.

Mon Orgue, c’est un orchestre! Ein „Orchester” wird sie werden, aber eben und das war nicht anders zu erwarten, ein anderes als zur Zeit César Francks. So wie die Klanglichkeit des romantischen Orchesters um 1850, die damaligen Orgeln beeinflusste, so beeinflusst unsere Musizierweise, auch jene in Ensemblebesetzungen, die heutigen Orgelbauten. Wir führen heute einigermaßen gleichberechtigt Musik für Tasteninstrumente aus gut 500 Jahren auf. Da ist es nur logisch, dass eine klangliche Annäherung an einen Abschnitt daraus gut möglich ist, dafür aber die Klanglichkeit anderer Epochen weniger zum Tragen kommt. So wie die skizzierten Methoden der „Historisch informierten Aufführungspraxis“ für viele Musiker heute Allgemeingut sind, ist die Auseinandersetzung mit historischen Orgeln und Arbeitstechniken für uns Orgelbauer immer wieder Inspirationsquell. Diese beiden Stränge für eine lebendige Klanglichkeit zusammenzuführen, war gleichermaßen Weg und Ziel der Intonationsarbeit an der Orgel für Goch, mit einem Ergebnis das für sich keine alleinige Gültigkeit beanspruchen, sondern wie gesagt nur Annährung sein kann.

Kevelaer im November 2015, Matthias Wirth.


mit freundlicher Genehmigung von Matthias Wirth
OI-G-61
Foto: Franz Peters
weiterführende Links:

Webseite Kath. Pfarrgemeinde St. Arnold Janssen
Webseite des Orgelbauvereins