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Basiswissen Kirchenmusik
4 Bände + Registerband und DVD

Verlag: Carus

Es ist inzwischen gut zehn Jahre her, dass mit den vier Bänden „Basiswissen Kirchenmusik“ ein umfangreiches und exzellent redigiertes Kompendium für die ökumenische Kirchenmusikausbildung erschienen ist. Die beiden Herausgeber Barbara Lange und Hans-Jürgen Kaiser haben sich der Aufgabe gestellt, die ganze inhaltliche und stilistische Breite abzubilden, die heute sowohl im neben- als auch im hauptamtlichen Bereich von Kirchenmusikerinnen gefordert wird. Dies ist, mit allen notwendigen Beschränkungen, die ein solches Mammutprojekt mit sich bringt, in hervorragendes Weise gelungen. Der große Erfolg der Edition gibt den Herausgebern Recht und hat nunmehr eine dritte Auflage nötig gemacht.

Schwere theoretische Kost, höchst lesenswert, attraktiv und nah an der Praxis aufbereitet - das ist der rote Faden, der sich durch die ganze Veröffentlichung zieht. Insgesamt 45 Autorinnen und Autoren haben Artikel beigesteuert, die es inhaltlich und sprachlich ausnahmslos verstehen, sich auf die ins Auge gefasste Leserschaft „angehender Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker“ sowie weiterer kirchlich interessierter Laien und Profis einzustellen.
Ganz bewusst ist im Zweifel einer persönlichen gefärbten Darstellung Vorrang vor einem zum Scheitern verurteilten Enzyklopädismus gegeben worden. Der Anspruch dieses Kompendiums ist es also (Gott sei Dank!) nicht, zu allen Themen alles sagen zu können, sondern vielmehr Lust auf die Vertiefung einzelner Aspekte, durchaus auch die Lust am Widerspruch zu wecken. Im launigen Vorwort der „obersten deutschen Theologen“ Kardinal Marx und Bischof Bedford-Strohm wird ausdrücklich eine weite Verbreitung auch in der theologischen Profession angeregt. Diesem Wunsch kann man sich nur dankbar anschließen.

Zunächst die gute Nachricht an diejenigen, die die vier Bände schon besitzen: Inhaltlich ist bis auf redaktionelle Aktualisierungen (neue GL-Nummern, aktualisierte Literaturhinweise, Internetadressen u.ä.) nichts Wesentliches geändert. Dankenswerterweise haben die Herausgeber im Gegenteil sogar darauf geachtet, dass bis hin zu den Seitenzahlen und -inhalten alle Auflagen untereinander „zitierfähig“ sind und somit die zahlreichen Querverweise weitgehend unverändert bestehen bleiben konnten. Das macht es auch Besitzern einzelner Bände möglich, ihren Bestand nach und nach zu erweitern.
Der Bezugspreis der einzelnen Bände ist angemessen - im Set spart man aber doch einiges.

Aus meiner Sicht hat jedoch der erste Band „Theologie - Liturgiegesang“ nach wie vor die eindeutig höchste Relevanz innerhalb der Gesamtveröffentlichung. Hier dürfte es schwerfallen, in dieser Dichte und Konzentration für die Bereiche „Theologisches Grundwissen“, „Liturgik“ sowie „Gregorianik und Hymnologie“ zeitgemäße Alternativen aufzuzeigen. Als Bonus findet sich nach wie vor ein ausgesprochen nützlicher und gerade für juristische Laien gut les- und verstehbarer Artikel über den strukturellen Aufbau der Evangelischen und Katholischen Kirche sowie für Kirchenmusikerinnen relevante Fragen des Arbeits- und Urheberrechts und der kirchenmusikalischen Verbandsarbeit. Rechts- und Strukturänderungen der letzten Jahre sind eingearbeitet.

Die Darstellung theologischer Grundfragen wurde mit Christoph Krummacher einem renommierten lutherischen Theologen und Kirchenmusiker übertragen. Dem kurzen, aber keineswegs gedrängten Parforceritt durch die Entstehungsgeschichte und Struktur der Heiligen Schrift schließen sich gedankliche „Anregungen“ zu Grundfragen des Glaubens an. Diese gewinnen gerade durch die geforderte Prägnanz an Strahlkraft und halten in überzeugender Weise die Balance zwischen wissenschaftlicher Darstellung und persönlicher Glaubensüberzeugung. Hier wird nicht in irgendeiner Weise „missioniert“, sondern in spürbarem Respekt auch vor anderen Glaubensüberzeugungen das Bild eines sich zunehmend von dogmatischen Theoremen abwendenden „modernen Christentums“ gezeichnet. Dies geschieht bewusst um den Preis einer differenzierten Darstellung verschiedener Glaubensströmungen und -überzeugungen. Die Literaturhinweise von Josef Ratzinger bis Hans Küng machen die Bandbreite der vom Autoren empfohlenen Weiterarbeit deutlich.

Die Grundzüge der Gottesdienstlehre schildert Benedikt Kranemann aus der Perspektive eines katholischen Liturgiewissenschaftlers. Auch hier betont der Autor das Verbindende zwischen den Konfessionen. In den letzten zehn Jahren hat sich diese interkonfessionelle Annäherung insbesondere auch in der Frage eines gemeinsamen Abendmahls deutlich weiterentwickelt. Die Dankbarkeit über diese Entwicklung hat den Autor veranlasst,
an einigen Stellen die Beschreibung offener Probleme (1. Auflage) in eine „Zwischenstandsmeldung“ über das inzwischen Erreichte (3. Auflage) zu konvertieren. Immer wieder schlägt Kranemann Brücken zwischen vornehmlich lutherischen Auffassungen und den grundlegenden liturgischen Impulsen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Evangelisches Gottesdienstbuch und Katholisches Messbuch werden unter verschiedenen thematischen Schwerpunkten gegenübergestellt und in ihren Gemeinsamkeiten, aber auch in ihren Unterschieden respektvoll entfaltet. Naturgemäß kann also auch ein „eingefleischter Lutheraner“ ausgesprochen gewinnbringend mit dieser Darstellung mitgehen, die reformierte Kirche kommt hier allerdings zu kurz. In der aktuellen Auflage sind drei wichtige Aspekte ergänzt: eine Gegenüberstellung verschiedener Taufliturgien, die Weiterentwicklung vornehmlich ökumenischer Andachtsformen und ein Abschnitt zu „Neueren Gottesdienstformen“, die sich an gesellschaftlichen oder persönlichen Ereignissen orientieren und mit klassischen liturgischen Vorstellungen nur schwer greifbar sind. Eine kurze schematische Gegenüberstellung der Katholischen Messfeier, der Grundform I des Evangelischen Gottesdienstbuches und eines reformierten Liturgieformulars, die sich vorher im Registerband fand, ist in der Neuauflage sinnvollerweise hier zugeordnet worden.

Der umfangreiche und engagierte Artikel von Christian Dostal zu Entstehung, Notation und Ausführung des Gregorianischen Chorals öffnet auch für evangelische Kantorinnen den Blick auf das gemeinsame musikalische Erbe der christlichen Kirchen. In Ergänzung zur ersten Auflage wird nun auch das 2011/2018 erschienene „Graduale Novum“ besprochen, hilfreiche weitere Literaturhinweise werden in der Neuauflage empfehlend hinzugefügt, und die in der Neuausgabe des GL verbesserte Notation Gregorianischer Choräle wird angesprochen. Die übersichtliche Darstellung der Neumen und Modi sowie das beigefügte Glossar bilden ein gutes Nachschlagewerk für alle, die sich neu ins Thema einlesen wollen.

Barbara Lange ist mit der umfassenden Darstellung von „Kirchenlied und Gesangbuch“ geradezu ein Quantensprung in der Vermittlung des geistlichen Lieds und seiner Entstehungsgeschichte gelungen. In der Neuauflage erwiesen sich nur ein revidierter Abschnitt zur Neuausgabe des GL sowie entsprechend korrigierte Liednummern als notwendig. Die Autorin versteht es meisterhaft, den anstrengenden dogmatischen Sprachgestus früherer hymnologischer Lehrbücher und Aufsätze zugunsten einer sowohl allgemeinverständlichen als auch wissenschaftlich „am Puls der Zeit“ befindlichen inhaltlichen und sprachlichen Darstellungsform zu überwinden. Dies gelingt ihr, in dem sie (nach einer sehr prägnanten Einführung in die heutige, ökumenisch orientierte Wissenschaft der Hymnologie und der differenzierten Klärung ihrer Grundbegriffe) die historische Entwicklung des Kirchenlieds immer wieder in den Kontext der innerkirchlichen und gesellschaftlichen Zeitgeschichte stellt. So verbindet die Autorin die Überlieferungsgeschichte in den Gesangbüchern der Zeit direkt auch mit der Darstellung und Ausdifferenzierung verschiedener theologischer Grundströmungen. In diesem Sinne füllt ihre integrierte hymnologische Gesamtschau sogar die theologische „Differenzierungslücke“, die der Eingangsartikel von Christoph Krummacher lässt. Das ist spannend zu lesen, sehr übersichtlich und klar dargestellt und mit einem großen Engagement für die Vielfalt des Kirchenlieds unterfüttert. Endlich werden in einer hymnologischen Gesamtdarstellung auch klare Bezüge zwischen deutschnationalen Idealen der (evangelischen) Singbewegung und der NS-Ideologie hergestellt und kritisch benannt. Diese Verstrickung von führenden Hymnologen und Kirchenvertretern, die auch noch lange nach dem Krieg das wissenschaftliche Narrativ prägten, ist viel zu lang ummantelt und verwischt worden. Konsequent werden die Liedbeispiele aus EG, GL sowie Reformiertem und Katholischem Gesangbuch der deutschsprachigen Schweiz synoptisch dargestellt. Verschiedene Fachbegriffe werden in einem Anhang übersichtlich und differenziert erläutert.

Das für alle Seiten sehr gewinnbringende „Wechselspiel“ katholischer und evangelischer Autoren setzt sich auch in den weiteren Artikeln des Bandes fort. Einer grundlegenden Darstellung der Psalmtöne und verschiedener mehrstimmiger Singformen, die sich, von Frankreich ausgehend, seit der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt haben (Richard Mailänder) folgt eine vor allem strukturelle Einordnung in die evangelisch(-lutherische) Grundform I des Evangelischen Gottesdienstbuches. Der Autor Christian Kollmar führt hier geschickt verschiedene Fäden der vorangegangenen Artikel zusammen und konkretisiert die liturgischen Grundlagen für die gottesdienstliche Praxis. Gewisse Dopplungen zum Artikel von Benedikt Kranemann nimmt man gerne in Kauf. Die katholischen Autoren, die dasselbe für die Messfeier und die Tagzeitengebete (inklusive des derzeit vielerorts gepflegten „Evensongs“) leisten, wählen hierfür eine übersichtliche tabellarische Form. Vielleicht hätte man hier der vorbildlich ökumenischen Darstellung der Stundengebete einen eigenen Artikel widmen sollen, ggf. in Verbindung mit dem folgenden Taizé-Artikel. Ein fundiertes und leider immer noch zu selten genutztes Plädoyer für die vor und mit der Gemeinde agierende Kantorin ist im Artikel „Gemeindesingen“ von Britta Martini zu finden. Die Autorin spricht die wesentlichen (gemeinde-)pädagogischen, hymnologischen und stimmbildungstechnischen Aspekte des Gemeindesingens an und gibt sehr hilfreiche Hinweise zur praktischen Umsetzung bis hin zu beispielhaften Ausformulierungen für die Singleiterin.

Die weiteren drei Bände von „Basiswissen Kirchenmusik“ sollen bewusst kursorischer betrachtet werden, da sich hier zum einen die Änderungen in der Neuauflage wirklich nur noch im „homöopathischen Bereich“ bewegen und zum anderen für die dargestellten Berufsfelder Chor- und Ensembleleitung (Band 2), Musiktheorie - Liturgisches Orgelspiel (Band 3) und Orgelliteraturspiel - Orgelbaukunde (Band 4) zahlreiche alternative, m.E. oft besser geeignete Veröffentlichungen finden lassen. Hier muss zwangsläufig bisweilen eben doch der Anspruch eines „objektiven“ Kompendiums zugunsten der kompakten Darstellung einzelner Lehrmuster bzw. Schulen verlassen werden.

Dies betrifft natürlich insbesondere den sicherlich von persönlichen Vorlieben und Abneigungen besonders geprägten Bereich der Chorleitung. Die umfangreiche Darstellung „dirigiertechnischer“ Grundlagen von Reiner Schuhenn (der Begriff „Schlagtechnik“ wird bewusst vermieden, sic!) sowie die Konkretisierung durch seine Schülerin Judith Kunz in der beiliegenden DVD zeigen dieses Dilemma sehr deutlich: Wer sich den dirigiertechnischen Grundideen des Autors anschließen möchte, wird hier gut bedient. Die „Einebnung“ des Hauptschlags auf eine imaginäre „Null-Ebene“, die besondere Fixierung auf kreisförmige und gleichmäßige Bewegungen statt klarer „Schlagpunkte“, die bewusste Förderung der „Kringelitis“ bei weichen Abschlägen o.ä. sind aber beileibe nicht alternativlos. Man möge mir meine Skepsis gegenüber dieser (nicht zuletzt durch die entsprechende Vermittlung an vielen Hochschulen sehr in Mode gekommenen) Form der Chorleitung nachsehen, nach meinem Empfinden sind hier allerdings ältere Veröffentlichungen im Bereich der Chorleitungsdidaktik vor allem für die Leitung „einfacherer“ Laienchöre deutlich hilfreicher. Die beiliegende DVD lässt in leider ermüdend monotoner Weise die Schülerin die Lehrsätze Schuhenns nachsprechen, gefolgt von der „demonstrativen“ Aufführung einer romantischen Motette, dann natürlich unter Schuhenns Leitung - ein sicht- und hörbar heikles Unterfangen. An dieser Stelle wäre doch eine inhaltlich und optisch aktualisierte Neufassung anzuraten.

Drei „Glanzpunkte“ des Chorleitungsbands seien aber auch ausdrücklich benannt:
Hinter der Überschrift „Hinweise zur Chorliteratur und Programmgestaltung“ verbirgt sich eine grandios verdichtete und mit überaus hilfreichen praktischen Anmerkungen versehene Zusammenfassung von Chorliteratur durch die stilistischen Epochen, die für „normale“ Kirchenchöre erreichbar ist. Gunther Martin Göttsche setzt hier zudem seine jahrzehntelange Erfahrung in der kirchenmusikalischen Gottesdienst- und Konzertpraxis behutsam und klar, aber ohne jeden „schulmeisterlichen“ Impetus in Empfehlungen zur diesbezüglichen Programmgestaltung um - Chapeau! Der einleitende, hervorragend zusammenfassende Artikel von Dieter Haberl zu den Hauptgattungen der (chorischen) Kirchenmusik und ihrer stilistischen Entwicklung ist, wie auch die anderen Artikel des Bandes, in der Neuauflage mit aktualisierten und teils deutlich erweiterten Literaturhinweisen versehen worden.
Der grundlegende Artikel zur Gestaltung einer Chorprobe von Christfried Brödel bündelt, ebenfalls von dessen unschätzbarer praktischer Erfahrung getragen, psychologische, probentechnische und musikalische Hinweise in verschiedenen, übersichtlich gestalteten Themenbereichen. Kürzere, durchweg gut gelungene Einzelartikel zu verschiedenen „Spezialgebieten“ (Scholaleitung, Popmusik, Kinderchor, Posaunenchor, Band etc.) runden Band 2 zu einer „Gesamtdarstellung“ des kirchenmusikalischen „Ensemblelebens“ ab.

Der „musiktheoretische“ Band 3 umfasst, nach drei umfangreichen Artikeln zu Musiktheoretischen Grundlagen (Marko Zdralek), Tonsatz (Franz Josef Stoiber) und Gehörbildung (Thomas Albus) vier weitere Artikel zum theoretisch nur schwer greifbaren Feld der „liturgischen Orgelimprovisation“ (inklusive „Neues Geistliches Lied“). Hier halte ich die gut strukturierten Hinweise zur Gemeindebegleitung (Jürgen Essl) für am hilfreichsten. Der Tonsatzartikel Stoibers folgt konsequent einem stufentheoretischen Zugang. Wer eher dem „klassischen“ funktionstheoretischen Modell nach Riemann / Maler zuneigt, wird sich aus dem diesbezüglich reichhaltigen Literaturfundus bedienen können.

Der „Orgelband“ 4 (hier hätte man doch sinnvollerweise auch das liturgische Orgelspiel zuordnen können) umfasst zunächst eine Darstellung der Geschichte der Orgelmusik anhand ihrer einzelnen Formen (von Präludien, Variationen und Sonaten bis hin zu Charakterstücken und Choralbearbeitungen) in Einzelartikeln verschiedener Autoren, jeweils in ihrer spezifischen musikgeschichtlichen Entwicklung. Diese Gliederung bedingt natürlich eine gewisse Redundanz, schafft jedoch eine gute Übersichtlichkeit anhand des Formkriteriums. Der technische Aufbau der Orgel wird in einem Artikel von Jürgen Rodeland und Kilian Gottwald gut verständlich dargestellt. Nur die üblichen Konstruktionszeichnungen sind bisweilen doch etwas zu klein geraten. Die stilistische Entwicklung des Orgelbaus stellt Volker Lutz anhand beispielhafter Orgeldispositionen dar, ein naheliegendes und sehr anschauliches Verfahren. Weitere Artikel zu Registrierung und Übetechnik sowie ein kommentiertes Literaturverzeichnis ergänzen diesen Band um praktische Aspekte.

Der beigefügte Registerband mit einer tabellarischen Darstellung der Kirchenmusikgeschichte im Kontext der allgemeinen Zeit-, Kirchen- und Kulturgeschichte ist die überaus hilfreiche Vervollständigung einer nach wie vor sehr empfehlenswerten Veröffentlichung.

Michael Voigt - für www.orgel-information.de
Mai 2020 / Juni 2020


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