Reformation und Romantik – Historische Orgeln in Hessen
Interpret: Thomas Wilhelm Label: Querstand
Reformation und Romantik? Man mag im ersten Moment stutzen, denn die Romantik ist nun nach allgemeiner Auffassung eine späte Gegenbewegung zur Reformation. Trotzdem hatte die Tonsprache der Romantik natürlich einen erheblichen Einfluss auf die protestantische Kirchenmusik und so fanden dann die ursprünglichen Antipoden zu einer geglückten Synthese, deren Höhepunkt in der Orgelmusik die Fantasien Max Reger sein dürften. Diese sind allerdings nicht wie manche Jünger des Meisters es posthum gerne darstellten, im leeren Raum entstanden, sondern konnten sich auf etliche Vorläufer berufen, die heute kaum noch im Repertoire zu finden sind.
Der Orgelsachverständige der evangelischen Landeskirche in Hessen, Thomas Wilhelm, hat sich die Mühe gemacht, drei bedeutende historische Orgeln mit Werken aus ihrer Entstehungszeit zu porträtieren. Man kann ihm nicht hoch genug anrechnen, dass er dabei so ganz und gar auf gängiges Repertoire verzichtet und sich auf romantische Bearbeitungen protestantischer Choräle konzentriert. Man ahnt, wie viele Stunden Arbeit in einem solchen Projekt stecken. Alleine dieser Umstand würde die beiden CDs schon wärmstens empfehlen.
Das erste Instrument ist die Dreymann-Orgel der Laurentiuskirche in Trebur aus dem Jahr 1844. Die Flöten des Instrumentes sind nichts weniger als delikat. Man muss sich wundern, dass das Wirken der Familie Dreymann eine eher lokale Resonanz gefunden hat. Ebenso exzellent präsentierte sich auch die Dreymann-Orgel in Mainz auf der neuen Schumann CD mit Daniel Beckmann. Hier nutzt Wilhelm die Farben ausgiebig mit einer Fantasie über „Ein feste Burg“ von Hermann Schellenberg, einer Fantasie über „Jesu, meine Freude“ von Johann Gottlob Töpfer und der Choralsonate „Ein feste Burg“ von Samuel de Lange jr. Zugegebenermaßen ist die Fantasie des seinerzeit wohl recht renommierten Schellenberg dann doch ein etwas biederes Stück. Dafür entschädigen die beiden anderen Werke, die es sicher verdienen, öfters gespielt zu werden. Hier kündigt sich an vielen Stellen durchaus die Kunst Regers an. Thomas Wilhelm bleibt der Musik nichts schuldig. Hier ist alles mit musikantischem Zugriff und charakteristischen Registrierungen gespielt. Einzig die Artikulation lässt manchmal den Spezialisten für historische Aufführungspraxis erkennen und ist an der einen oder anderen Stelle vielleicht für das 19. Jahrhundert ein wenig zu sehr im Bereich des detaché, was allerdings auch einer schwergängigen Traktur geschuldet sein könnte.
Die zweite CD enthält Werke von de Lange, Hans Fährmann und Paul Gerhardt. Der Rezensent gesteht, mit Fährmanns technisch anspruchsvollen, aber musikalisch etwas zähen Orgelwerken seine Schwierigkeiten zu haben. Das dürfte allerdings im Bereich der persönlichen Vorlieben liegen. Eine veritable Entdeckung sind jedoch die Orgelwerke des Zwickauer Organisten Paul Gerhardt, der mit Reger freundschaftlich verbunden war und Widmungsträger der Choralfantasie über „Straf mich nicht in deinem Zorn“ ist. Diese Freundschaft ist nun auch musikalisch deutlich herauszuhören. Die Charakterstücke über evangelische Choralmelodien op.3 stehen Regers op. 67 nah und sind aufgrund ihrer Kürze auch für den Gebrauch im Gottesdienst gut geeignet. Wie es klingen könnte, wenn Wagner Orgelwerke geschrieben hätte, davon gibt Gerhardts Fantasie über „Ein feste Burg“ einen guten Eindruck. Ein wahrhaft imposantes Tongemälde. Letzteres erklingt auf der Walcker-Orgel der Lutherkirche Wiesbaden, die diskografisch schon mehrfach erfasst ist, allerdings eben auch immer wieder überzeugt und sich klanglich homogener präsentiert als das Instrument in Offenbach.
Die Dokumentation im sorgfältig gemachten Booklet lässt keine Wünsche übrig.
Die Doppel CD sei allen ans Herz gelegt, die deutsche Romantik abseits von Rheinberger, Reger oder Karg-Elert erkunden wollen.
Axel Wilberg - für www.orgel-information.de
Februar / April 2021
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